Dr. Karl Ludwig Kahlbaum, arbeitete nach dem Medizinstudium ab 1856 als Irrenarzt in der Heilanstalt Allenberg/Ostpreußen. Nach der Habilitation in Psychiatrie 1854 lehrte er von 1863-1866 als Privat-dozent an der Universität Königsberg. Aus beruflichen und politischen Gründen folgte Kahlbaum 1866 dem Ruf von Dr. Hermann Reimer an dessen private Nervenheilanstalt in Görlitz und übernahm diese bereits ein Jahr später, baute sie aus und entwickelte neue therapeutische Konzepte. Das Kahlbaum Sanatorium war für seine Zeit sehr fortschrittlich, hier wurden die geistig Erkrankten nicht wie damals üblig weg-gesperrt, sondern therapiert mehr
Ergebnis der wissenschaftlichen Tätigkeit war die Veröffentlichung von zahlreichen Arbeiten. Zu ihnen gehörten die richtungweisenden Arbeiten
,,Die Gruppirung der psychischen Krankheiten und die Eintheilung der Seelenstörungen : Entwurf einer historisch-kritischen Darstellung der bisherigen Eintheilungen und Versuch zur Anbahnung einer empirisch-wissenschaftlichen Grundlage der Psychiatrie als klinischer Disciplin" (1863) sowie
,,Die Sinnesdelirien" (1866)
Die Katatonie oder das Spannungsirresein. Eine klinische Form psychischer Krankheit von Karl Kahlbaum. Berlin: A. Hirschwald 1874
Mit Weitsicht und großem Geschick vergrößerte Dr. Kahlbaum die Heilanstalt am Obermühlberg und machte sie dank moderner Behandlungs- und Rehabilitationsmethoden, Pädagogium und Klinikpark zu einem weit bekannten Universalsanatorium. Nah an der Wirkungsstätte, residierte Karl Ludwig Kahlbaum in der Villa Ecke Schillerstraße Moltkestraße wie auch sein Sohn Siegfried mit Familie. Am 28. November 1870 kam der Sohn Siegfried Kahlbaum in Görlitz zur Welt. Wie der Vater studierte er Medizin. Nach dem Tod seines Vaters 1899 übernahm Siegfried Kahlbaum (* 28. November 1870 in Görlitz; † 2. Oktober 1943) die Leitung der psychiatrischen Anstalt in Görlitz (Sanatorium Dr. Kahlbaum). Er war Sanitätsrat und Autor mehrerer psychiatrischer Publikationen.
Eng befreundet mit Rudolf Virchow und Ludwig Feyerabend war Dr. Karl Ludwig Kahlbaum Mitbegründer und Förderer der Anthropologischen Gesellschaft der Oberlausitz, Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft und der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften.
Er starb am 15. April 1899. Seit 1959 existiert seine Grabstelle nicht mehr. Erhalten blieb die Grabstelle der Familie Kahlbaum an der Friedhofsmauer, wo unter anderem die Eltern Karl Ludwigs und dessen Sohn Siegfried (1870-1943) ruhen.
„Die Entwicklung der Psychiatrie in Görlitz unter Dr. Reimer und Dr. Kahlbaum“
Dr. med. Friederike Schlichting, geb. Altenkirch
Aus der Dissertationsschrift zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Medizin, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden, Institut für Geschichte der Medizin, Direktorin Frau Prof. Dr. med. Heidel
Vor Eröffnung der privaten Heilanstalt für Epileptiker 1855 durch Hermann Andreas Reimer gab es in Görlitz und der Umgebung keine spezialisierte Betreuung und Behandlung von Epilepsiekranken. Die
Aufnahme von Epileptikern in öffentlichen Irrenanstalten war im Regierungsbezirk Liegnitz, zu dem Görlitz gehörte, sogar verboten. Somit hatte Reimer nachweislich in Deutschland, wenn nicht sogar
in Europa, eine der ersten ärztlich geleiteten und spezialisierten Einrichtungen für Epileptiker gegründet. Seinerzeit hatte der Epilepsiekranke eine schlechtere, gesellschaftliche Stellung als
der psy-chisch Kranke. Nur wenige Ärzte waren in der Lage, das Krankheitsbild der Epilepsie zu erkennen oder glaubten gar an eine Therapierbarkeit. Reimer hatte es sich nicht nur zur Aufgabe
gemacht, Patienten mit Epilepsie zu diagnostizieren, sondern auch Patienten mit diesem Krankheitsbild zu behandeln. Sein Vorgehen verbesserte zugleich die Akzeptanz der Bevölkerung und Ärzte für
speziell dieses Krankheitsbild. Er vermutete, dass durch eine frühzeitige Behandlung der Epileptiker der Gehirnabbau reduziert würde, damit ein normales Leben (gesellschaftlich und
wirtschaftlich) möglich wäre. Davon würde wiederum auch der Staat wirtschaftlich profitieren, wenn weniger Pflegefälle auf Staatskosten versorgt werden müssten. Mit der Erweiterung seiner
Institution im Jahre 1856 zur privaten Heil- und Pflegeanstalt für Gehirn- und Nervenkranke entstand in Görlitz erstmals die Möglichkeit, auch psychisch Kranke speziell zu versorgen und zu
behandeln. Im Regierungsbezirk gab es zwar einige wenige staatliche Heil- und Pflegeanstalten, diese waren jedoch weit entfernt von Görlitz und stets überfüllt. Reimer bemühte sich sowohl bei den
Epileptikern als auch bei den psychisch Kranken um einen ganzheitlichen Behandlungsansatz. Dieser umfasste nicht nur diätetische Metho-den und Bäderkuren, sondern auch verhaltenstherapeutische
Ansätze. 1866 stellte Reimer den Nervenarzt und Privatdozenten Karl Ludwig Kahlbaum als ersten Assistenten ein, dem er bereits 1867 seine Anstalt übergab und selbst aber Görlitz verließ. Bereits
während Kahlbaums Anstellung an der staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Allenberg konzentrierte er sich auf die klinische Beobachtung und Dokumentation der psychiatrischen Patienten, woraus er
entgegen der seinerzeit vertretenen Einheitspsychose- eine klinisch-orientierte Klassifikation für psychiatrische Krankheitsbilder zu entwickeln versuchte. Die damit verbundene Differenzierung
seiner Patienten nach verschiedenen Erregungs- und Krankheitszuständen sowie nach dem Geschlecht spiegelte sich auch in der deutlichen räumlichen Anstaltserweiterung in Görlitz wider. Mit der
klinischen Betrachtungsweise seiner Patienten war nicht nur eine Differenzierung der Patienten, sondern auch die Erstellung neuer Diagnosen und damit auch eine Prognoseabschätzung für die
jeweiligen Erkrankungen möglich geworden, die schließlich auch zu einer weiteren Spezialisierung im Fachgebiet Psychiatrie führten. Im Zuge der Spezialisierung entstand nicht nur eine
Pflegeabteilung für chronisch Kranke, sondern auch erstmals ein sogenanntes Ärztliches Pädagogium zur speziellen und ganzheitlichen Behandlung psychisch kranker Kinder, Jugendlicher und junger
Erwachsener des männlichen Geschlechts. Neben der ärztlichen Therapie erhielten die Kinder und Jugendlichen regelmäßig Unterricht (entsprechend ihrem Ausbildungsstand) oder konnten eine
Berufsausbildung beginnen. Die Ausbildung fand zum Teil in anstaltsexternen Betrieben und Schulen statt, wodurch Kahlbaums frühe Bestrebungen eines offenen Fürsorgekonzepts belegt werden können.
Auch gab es bereits seit den 1870er Jahren regelmäßig Sprechstundenzeiten im Sinne einer ambulanten Patientenbetreuung. Mit der Eröffnung des offenen Kurhauses in den 1880er Jahren vollzog sich
auf dem Kahlbaumschen Anstaltsgelände eine weitere Öffnung der An-staltsgrenzen, weg von der weitverbreiteten Form der der geschlossenen Anstalt. Den leichteren Nervenkranken des offenen
Kurhauses war es möglich, an freizeitlichen Aktivitäten außerhalb der Anstaltsgrenzen teilzunehmen und sich frei auf dem Anstaltsgelände zu bewegen. Es ist zu resümieren, dass es Reimer und
Kahlbaum zu verdanken ist, dass eine spezialisierte Behandlung von Epileptikern und psychisch Kranken der höheren Stände bereits ab 1855 in Görlitz möglich wurde. Beide Ärzte bemühten sich
frühzeitig um ein balancierte Arzt-Patienten-Verhältnis im Sinne eines Moral-Management mit zunehmender Distanz weg von Zwangsanwendungen, hin zu einem No-Restraint-System und offenem
Fürsorgekonzepts. Während medikamentöse Therapien kaum Anwendungen fanden, konzentrierte sich insbesondere Kahlbaum auf verhaltenstherapeutische Anwendungen, wie die Milieu-, Arbeits-, Kunst- und
Musiktherapie, wie sie zum Teil auch heute noch ihren Stellenwert in der Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder haben.
"Karl Ludwig Kahlbaum. Als Psychiater war er seiner Zeit voraus"
Dr. med. Jürgen Wenske, Görlitz Quelle:
Ärzteblatt Sachsen
07/2021,
S. 36-38
Der Historiker Karl Mendelssohn Bartholdy (1838-1897) war in der Klinik des Dr. Kahlbaum Patient. Karl Mendelssohn, der älteste Sohn von Felix Mendelssohn-Bartholdy, fühlte sich der bürgerlichen Revolution verpflichtet. Elke Renate Steiner lässt seinen jüngeren und scheinbar erfolgreicheren Bruder, Paul Mendelssohn, in
Rückblenden von Karls bewegtem Leben erzählen. Darunter auch die Begebenheiten als Patient in Görlitz in der Kahlbaumklinik, die damals zu den fortschrittlichsten psychiatrischen Einrichtungen
Deutschlands gehörte.
Die anderen Mendelssohns: Karl Mendelssohn Bartholdy von Elke Renate Steiner /
Steinercomix.de, erschienen 2015.
Der Begriff der Katatonie ist eng mit dem der Schizophrenie verknüpft, seitdem Kraepelin (1899) die von Kahlbaum (1874) als Katatonie oder »Span-nungsirresein« beschriebene Krankheitsentităt -
neben der von Hecker (1871) beschriebenen He-
bephrenie und der Dementia paranoides - zu einer
der Subtypen der Dementia praecox gemacht hatte
und diese Zuordnung auch von Bleuler (1911) bei dessen Rekonzeptualisierung der Dementia praecox unter der neuen Bezeichnung »Schizophrenie« (Spaltungsirresein) übernommen worden war. Mit dem Begriff der Katatonie verbinden sich seitdem
eine Reihe ungeloster Probleme, die sowohl in nosologischer wie in ătiologischer Hinsicht zu den schwierigsten der Psychiatrie zăhlen.
In: Jahn T. (2004) Katatonie — 130 Jahre
nach Karl Ludwig Kahlbaum.
In: Jahn T. (eds) Bewegungsstörungen bei Psychischen Erkrankungen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-18533-5_1
Das heute gültige Schizophreniekonzept geht in seinem Ursprung und in Bezug auf die wesentlichen Definitionskriterien auf Kraepelin zurück, der wiederum die entscheidenden Anstöße für sein auf
die Entdeckung und Formulierung klinischer Krankheitseinheiten ausgerichtetes psychiatrisches Denken von Kahlbaum erhielt. Karl Ludwig Kahlbaum lebte und wirkte von 1866 bis zu seinem Tode 1899
in Görlitz. Sein fachliches Forum hatte er im Verein ostdeutscher Irrenärzte. Ungeachtet seiner Bedeutung für die Entwicklung der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts gehört Kahlbaum zu den
vernachlässigten Figuren der Psychiatriegeschichte. Kahlbaum ist der Schöpfer der psychiatrischen Krankheitslehre und in seinem Denken wurzelt auch unser heutiger Schizophreniebegriff, der von
Kraepelin mit der Bezeichnung „Dementia praecox“1899, dem Jahr von Kahlbaums Tod, aus der Taufe gehoben wurde.
In: Von der Katatonie und Hebephrenie zur Dementia praecox — Kahlbaums Beitrag zur Entwicklung des modernen Schizophreniekonzepts.
Universitätskolloquien zur Schizophrenie, S. 267-273. Autoren: P. Bräunig, S. Peter (2003)
Artikel von Harms und Thieme würdigen Kahlbaum als Pionier der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. sein Wirken als Psychiater in seiner Görlitzer Anstalt; Katzenstein analysiert seinen Beitrag zur
Entwicklung der Psychiatrie als Theorem. Vorliegende Arbeit versteht sich dazu als Ergänzung. Sie widmet sich dem bisher kaum beachteten Lebensabschnitt vor der allgemeinen Beachtung als
Therapeut und Wissenschaftler. Dabei kann sie, vor allem anhand der Untersuchung seiner Studien in Leipzig, Mutmaßungen bestätigen, daß sich Kahlbaum erst relativ spät für psychiatrische Themen
interessierte. Weiterhin zeichnet sie die Diskussion um seine wissenschaftliche Hauptleistung, seine Nosologie von 1863, nach und erhärtet den Fakt, daß deren Autor erst Jahrzehnte später auf
diesem Felde Anerkennung erfuhr.
In: Karl Ludwig Kahlbaum - Leben und Werk bis zur Zeit seines Bekanntwerdens. Ein
Beitrag aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Todestages am 15. April 1999 von H. Steinberg. Fortschritte der Neurologie - Psychiatrie, Ausgabe 67 (8), S. 367-372. Georg Thieme Verlag KG (1999)
Der Görlitzer Nervenarzt Karl Ludwig Kahlbaum- ein weltbekannter Pionier der deutschen Psychiatrie und Rehabilitation von Frank Thieme. In: Görlitzer Magazin. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Görlitz (1988)
Anliegen des Autors, Hans Peter Lauschke ist, auf einen der großen deutschen Nervenärzte — auf C.-L. Kahlbaum — aufmerksam zu machen. Von der Ernennung zum "Königlichen Sanitätsrat" nach seinem
Tod abgesehen, sind seine ärztlichen und wissenschaftlichen Leitungen eigentlich sein ganzen Leben lang nie gebührend gewürdigt worden. Veröffentlicht 1979, dem Jahr der Veröffentlichung jährte
sich damals der 150. Geburtstag Kahlbaums.
Lauschke, H. P. “In Memoriam C.-L. Kahlbaum.” Psychiatrie, Neurologie Und Medizinische Psychologie, vol. 31, no. 4, 1979, S. 217–23. Online Beitrag
JSTOR, http://www.jstor.org/stable/45254212